Sep 24, 2023
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Erdschluss

Falsches Kabel geschnitten ? ⚡️⚡️ ERDSCHLUSS ⚡️⚡️

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ERZlich Willkommen liebe Freunde, der Schutz-, Leit- und Elektrotechnik, heute zeigen wir Euch, was passiert, wenn Monteure fälschlicherweise ein unter Spannung stehendes Mittelspannungskabel schneiden. Der Beitrag ist in Zusammenarbeit mit dem Kollegen Thomas Frey aus der Schweiz entstanden und ist ein Lehrbeispiel für alle Aspekte rund um den wattmetrischen Erdschlussschutz. Wir schauen uns den Aufbau der Anlage, den Hergang der Störung, alle erforderlichen Grundlagen und die aus der Störung resultierenden Störschriebe und Auswirkungen im Detail an.

Wir wünschen viel Spaß beim Sehen, los gehts!

Euer SCHUTZTECHNIK-TEAM

(Lesebeitrag unterm Video)


Aufbau der Schaltanlage und Funktionsbeschreibung

Schauen wir uns zunächst den Grundaufbau der Anlage an. In der Abbildung sehen wir eine 16 kV Schaltanlage mit Doppelsammelschiene, welche über insgesamt acht Felder verfügt.

01_Schaltanlage_Mittelspannung

Die Felder -J01 bis -J03 sind Leitungsfelder, in Feld -J04 speist ein Trafo aus der 110 kV-Ebene ein, die Felder -J05 und -J06 sind wieder Leitungsabgänge, in Feld -J07 befindet sich eine Erdschlusskompensationsanlage mit Wirkstromverstärkung und in Feld -J08 ist die Querkupplung der Sammelschienen untergebracht. Die Nennspannung der Anlage beträgt wie bereits erwähnt 16 kV und die Kompensationsanlage in Feld -J07 besteht aus einem Sternpunktbildner, einer 300 A Erdschlusslöschspule, welche mit etwa 5 % überkompensiert gefahren wird, und einem ohmschen Widerstand von 1,35 Ohm, welcher zur Verstärkung des Wirkstromes im Erdschlussfall dient.

02_b_Trafo Sternpunktbildner Spule
02_b_Trafo Sternpunktbildner Spule

Ohne den zusätzlichen Widerstand beträgt der zu erwartende Wirkstromanteil ca. 1–2 % des Stromes der Erdschlusslöschspule, in unserem Fall also 1–2 % von 300A = 3 – 6 A.
Im fehlerfreien Betrieb kann der Wirkstromanteil aus der Resonanzkurve des Löschspulenreglers bestimmt werden und wird im Display des Reglers angezeigt.

02_c_Wirkanteil Spulenregler

Der Widerstand wird beim Auftreten eines Erdschlusses über eine „Widerstand Automatik“ des Petersen-Spulenreglers mit einem Leistungsschütz für die Dauer von 2 Sekunden auf die Hilfswicklung der Löschspule aufgeschaltet. Der daraus resultierende Wirkanteil im unkompensierten Reststrom ist hinreichend groß, um die wattmetrische Erdschlussrichtungserfassung im cosphi-Modus in die Lage zu versetzen, die Richtung des Erdschlusses sicher zu verifizieren. Als Zuschaltkriterium gilt das Überschreiten von 20 % der wurzeldreifachen Nullspannung, welche ebenfalls vom Spulen-Regler erfasst und am Spannungswandler der Spule gemessen wird.

02_d_Erdschlusskompensation

Die Erdschlussrichtungserfassung in den Abgängen wir dann durch Siemens SIPROTEC Geräte vom Typ 7SJ85 realisiert, welche, wie bereits erwähnt, im cosphi-Modus arbeiten. Zur Erfassung der Messgrößen wird der dreifache Nullstrom jeweils über einen 200 / 1 A Kabelumbauwandler gemessen und dem Schutzrelais zugeführt. Die Nullspannung wird jeweils aus den drei gemessenen Leiter-Erde-Spannungen vom Schutzrelais berechnet.

An dieser Stelle lohnt es sich immer, die einfachen Formeln für I0 und U0 im Kopf zu haben. Bei der Betrachtung der Zeigerdiagramme im Störschrieb kann die Vektoraddition dann später auch visuell durchgeführt werden. Für das Nullsystem des Stromes gilt:

2_f_Symmetrische Komponenten Nullstrom

Bei -3Io handelt es sich um den Gegenvektor von 3Io, also gleicher Betrag, aber um 180° gedreht. Der Kabelumbauwandler misst die Summe der drei Leiterströme, also I1 + I2 + I3 + I-Schirm – I-Schirm = 3I0. Damit der Schirmstrom von der Messung ausgeschlossen wird, ist es wichtig, dass der Schirm des Mittelspannungskabels, bevor er auf Erde geführt wird, zurück durch den Kabelumbauwandler geführt wird.

2_e_Kabelumbauwandler Erdung

Für das Nullsystem der Spannung gilt analog:

2_g_Spannungswandler

Die Richtungskennlinie des 7SJ85 arbeitet bei cosphi-Messung nach dem folgenden Prinzip. Wir legen uns die Nullspannung in die negative reelle Achse. 

cosphi Verfahren erdschlusschutz wattmetrisch

Hier bitte nicht wundern, im Handbuch des Herstellers hat man die Nullspannung in die positive reelle Achse gelegt und das Diagramm um 90° nach links gekippt. Warum machen wir das anders? Ganz einfach: Weil hier jeder seine eigene Vorgehensweise hat und es kein richtig und kein falsch gibt. Das kann jeder machen, wie er will, wichtig ist nur, dass man es immer auf die gleiche Weise angeht und sich nicht aus dem Konzept bringen lässt. Unsere Vorgehensweise, die Nullspannung bei – 180° zu platzieren, resultiert aus der Tatsache, dass man die fehlerfreie Leiter-Erde-Spannung von Phase 1 gern bei 0° platziert. Bei einem Erdschluss in Phase 1 kommt die Nullspannung dann immer bei – 180° zum Liegen. Aber wie gesagt: Jeder ist hier sein eigener Schöpfer.

Der Zeiger des negativen Reststromes kommt aufgrund der Überkompensation und der Richtungsdefinition von Siemens im zweiten Quadranten zum Liegen.

b cosphi Verfahren erdschlusschutz wattmetrisch

Da der Algorithmus nur den reinen Wirkanteil des Reststromes bewertet, müssen wir diesen Anteil des Reststromes auf die reelle Achse beziehen.

c cosphi Verfahren erdschlusschutz wattmetrisch

Der Strom in Orange ist damit der Wirkanteil des dreifachen Nullsystemstroms und wir erhalten durch die Projizierung ein rechtwinkliges Dreieck. Siemens bezeichnet den Wirkanteil des Reststromes als „3I0 ger.“. Die Berechnung des Wirkanteils erfolgt, indem wir den Betrag des Reststromes mit dem cosphi des Winkels zwischen Reststrom und reeller Achse multiplizieren.

d cosphi Verfahren erdschlusschutz wattmetrisch

Wichtig: Hier am Taschenrechner den DEG-Modus aktivieren, mit der Radiant-Einstellung geht es in die Hose. Der resultierende Wirkanteil wird nun bewertet und zeigt, ob der eingestellte Stromansprechwert erreicht wurde und ob der Erdschluss in Vorwärts- oder Rückwärtsrichtung liegt. Für diese Bewertung gibt es eine Richtungscharakteristik. Der erste und wesentliche Parameter dieser Charakteristik lautet „Min.ger.3I0> für Ri.Best.“ und beschreibt den Mindestwirkanteil im Reststrom, der erreicht werden muss, um die Richtungserkennung zu starten.

f cosphi Verfahren erdschlusschutz wattmetrisch

Mit den beiden zusätzlichen Parametern 𝛼1 und 𝛼2 ist es zudem möglich, den Vorwärts- und Rückwärtsbereich ein wenig einzuschränken, um die Randbereiche bei großen Strömen etwas unempfindlicher zu machen.

g cosphi Verfahren erdschlusschutz wattmetrisch

Die Voreinstellung beträgt hier 2° und wird in vielen Fällen verwendet. Daraus resultieren dann die beiden Richtungsbereiche vorwärts und rückwärts.

Eine Anregung in Rückwärtsrichtung wird man in der Praxis kaum erhalten, da die Quelle für den Wirkstrom hauptsächlich aus den ohmschen Verlusten der Spule und dem dazu parallel befindlichen Zusatzwiderstand besteht. Dies gilt natürlich immer nur dann, wenn der Widerstand auch eingeschaltet ist. Da außerdem eventuelle Kriechströme über Isolatoren meist vernachlässigbar klein sind, kommt in Rückwärtsrichtung kein nennenswerter Wirkstrom zum Tragen und infolgedessen keine Meldung in Rückwärtsrichtung.

h cosphi Verfahren erdschlusschutz wattmetrisch

Wenn nun ein hinreichend hoher Wirkanteil erreicht und das Kriterium der Stromrichtung erfüllt wird, wird das Relais die Richtung für den eigenen Abgang erkennen. In unserem Beispiel sehen wir einen typischen Erdschluss im eigenen Abgang in Vorwärtsrichtung. In der Praxis liegt der Winkel 𝞿 des Reststromes häufig im Bereich zwischen 100° und 160° und bei entgegengesetzter Richtungsdefinition bei -20° bis -80°. Die Einstellwerte für die selektive Erdschlussrichtungserfassung mittels cosphi-Verfahren sehen wie folgt aus:

04_Einstellwerte Erdschlussschutz SJ85

Der Ansprechwert für die Nullspannung liegt also bei 30 % der Nennspannung und der Einstellwert für den dreifachen Nullstrom liegt primär bei 10 A und dementsprechend sekundär bei 50 mA.

Zurück zu unserer eigentlichen Story und damit zur Sache, was war passiert?

Nun, man wollte bei einem nicht mehr benötigten Feld die Mittelspannungskabel schneiden und rückbauen. Also hat man an der Schaltanlage einfach das dritte Feld von rechts abgezählt, geerdet und kurzgeschlossen und ist dann in den Kabelkeller gegangen, um dort erneut das dritte Feld von rechts abzuzählen.

05_Schaltanlage Kabelboden Mittelspannung

Leider befand sich im Feld rechts außen die Sammelschienenkupplung und man ist dadurch systematisch eins zu weit nach links gerutscht und hat versehentlich das vierte Feld von rechts, welches sich nach wie vor in Betrieb befand, ins Visier genommen. Es sollte also Feld -J06 geschnitten werden, tatsächlich geschnitten wurde allerdings Feld -J05. Und dreimal dürft ihr raten, welches Kabel den ersten Schnitt genießen durfte: Richtig, man hatte beschlossen der Reihe nach vorzugehen und Leiter 1 war hier das Opfer. Der Schnitt hatte einen Erdschluss in Leiter 1 zur Folge und wir schauen uns nun den Störschrieb des Schutzgerätes an, um uns einige Phänomene der wattmetrischen Erdschlusserfassung und die Auswertung von Störschrieben vor Augen zu führen. Bevor wir allerdings loslegen, noch kurz ein paar generelle Worte zum Thema Störschrieb.


Was ist ein Störschrieb im Comtrade-Format?

Ein Störschrieb wird in modernen Schutzrelais im genormten Comtrade-Format und im Fehlerfall angelegt und verfügt im Kern über zwei Dateitypen. Das ist zum einen die CFG-Datei und zum anderen die DAT-Datei. In der erstgenannten CFG-Datei werden Konfigurationsinformationen gespeichert, wie zum Beispiel die Namen der Signale, die Startzeiten der Samples, die Anzahl der Samples, Min- und Max-Werte und so weiter. In der DAT-Datei sind dann die eigentlichen Sample-Werte abgelegt, also die Abtastwerte der gemessenen Signale.

Comtrade Format Störschrieb

Beide Dateien können mit einem einfachen Texteditor geöffnet werden und die DAT-Datei sieht dann von innen so richtig spannend aus und hat ohne adäquate Auswerte-Software den Informationsgehalt einer Raufasertapete.

07_DAT-Datei comtrade format

Und damit sind wir auch schon beim nächsten Thema: Welche Software eignet sich zur Auswertung von Comtrade-Störschrieben?

Es gibt unzählige Anbieter von Software- und Online-Tools zum Öffnen, Betrachten und Bearbeiten von Comtrade-Files. Wir arbeiten heute mit der Software „Transview“ der Firma Omicron, welche identisch mit der Software „SIGRA“ von Siemens ist.

Omicron Transview SIGRA

Zudem bieten eigentlich alle Schutzrelais-Lieferanten eigene, meist abgespeckte Lösungen, welche in vielen Fällen in die Bedien- und Parametriersoftwares der Relais integriert sind.

Wir schauen uns nun die Störschriebe des Schutzrelais aus Feld 5 an.

Öffnen des Störschriebs

Ok, wir öffnen den Störschrieb und erhalten zunächst die folgende Ansicht:

01_Störschrieb_Erdschluss_Momentanwerte

Die allererste Amtshandlung ist nun immer erst einmal Ordnung zu schaffen. Da die vielen Diagramme schnell unübersichtlich werden, ist man immer gut beraten, alle Ströme und alle Spannungen in jeweils gemeinsame Signalgruppen zusammenzulegen. Dazu einfach oben rechts auf „aktuelles Profil“ klicken

02_SIGRA_Transview_Eine Signalgruppe je Diagramm_real

und „Eine Signalgruppe je Diagramm“ auswählen. Dadurch sieht es schon wesentlich aufgeräumter aus.

03_SIGARA_Transview_Trigger_Löschen

Im nächsten Schritt entfernen wir jetzt alle Trigger und Schleifen, die wir nicht benötigen. Dazu gehört unter anderem die Zeit-Trigger-Spur über den Diagrammen. Diese einfach auswählen,

04_SIGRA_Transview_Anregung

 „Entfernen-Taste“ drücken und weiter geht’s. Das Gleiche gilt auch für die allgemeinen Anregeschleifen

05_SIGRA_Transview_Binäre_Spuren

und für das untere Chart mit der Leistungsschalter-Position. 

06_SIGRA_Transview_Signale_zuordnen

Auswählen, mit der „Entfernen-Taste“ löschen und fertig. In der jetzt verbleibenden Ansicht der Binärsignale löschen wir alle nicht benötigten Signale raus. Dazu einfach rechte Maustaste drücken und auf „Signale zuordnen“ gehen. Es öffnet sich eine Tabelle und hier können alle Rangierungen wie gewünscht vorgenommen werden. Hier entfernen wir nun alle leeren und redundanten Signale sowie die „Anregung rückwärts“.

07_b_SIGRA_Transview_Primärwerte_real

Das Ergebnis sieht dann schon wesentlich übersichtlicher und wie folgt aus.

07_c_SIGRA_Transview_Netzkonfiguration_öffnen

Jetzt schalten wir unsere Ströme und Spannungen alle auf Primärwerte um

07_Transview_SIGRA_Spannungsverlauf

und öffnen die Netzkonfiguration.

08_SIGRA_Transview_Netzkonfiguration

Hier weisen wir jetzt die Signale zu, hinterlegen die Übersetzungen der Strom- und Spannungswandler und geben die Richtung der Erdung der Stromwandler an. Die sekundär aufgezeichneten Werte können dadurch in der Analyse auch als Primärwerte verifiziert werden.

09_SIGRA_Transview_Strom_Spannung

Wichtig: In unserem vorliegenden Fall, welcher zugegebenermaßen sehr exotisch ist, ist der primäre Bemessungsstrom des Kabelumbauwandlers mit 200 / 1 A um den Faktor 1,33 größer als die primären Bemessungsströme der Leiterstromwandler. Deshalb ist der Faktor 1,33 im Fenster „IE/Iph“ einzugeben. In den meisten Fällen ist dieser Wert allerdings kleiner als 1. Wir werden an späterer Stelle noch zeigen, welche Auswirkung diese wichtige Einstellung hat.

Unter der Überschrift Spannungswandler geben wir bei UL12 also bei der verketteten Spannung zwischen Phase 1 und Phase 2 unsere, für die Synchrocheck-Funktion gemessene, Sammelschienenspannung „USS L12“ an.
Das Fenster U/Uen kann leer bleiben, da wir keine en-Spannungsmessung vorliegen haben.

Wir sind immer noch beim Aufräumen, und führen die folgenden Optimierungen durch:

- Reinzoomen bzw. Vergrößern in den Bereich zwischen – 100 ms und - 50 ms

- Anpassung der Diagrammhöhe auf jeweils 80 mm mit anschließender Optimierung der y-Achse

Das Ergebnis sollte nun wie folgt aussehen:

10_SIGRA_Transview_Spannungen_Zeigerbilder

Hier überprüfen wir nun die Phasenfolge für Spannungen und Ströme und schauen zudem, ob die Phasenlage der Ströme und Spannungen unseren Erwartungen entsprechen. Über die Messlineale können wir darüber hinaus exakte Messzeitpunkte untersuchen und auch schauen, ob unsere Netzkonfiguration Sinn ergibt. In unserem Beispiel sehen wir schön, dass die mit dem Lineal gemessenen Effektivwerte der Spannungen bei etwa 9,4 kV und damit in Höhe der erwartungsgemäßen Leiter-Erde-Spannung liegen.

Analyse der Spannungen

Im nächsten Schritt wollen wir jetzt den Verlauf der Spannungen über den gesamten Fehler untersuchen. Dazu vergrößern wir das Spannungsdiagramm auf eine Höhe von 100 mm und teilen den Bildschirm. Dadurch können wir die Momentanwerte und die Zeigerbilder der Spannungen gleichzeitig sehen und analysieren und behalten zudem die Event-Trigger im Blick.

In der Abbildung können wir jetzt anschaulich anhand der Zeigerbilder die Amplituden und Phasenlagen untersuchen. Wir sehen, dass unser Drehfeld stimmt, dass die Phasenfolgen für den Vorfehler in Ordnung sind und die Phasenwinkel passen. Ströme und Spannung sind beinahe phasengleich. Das bedeutet, dass der cosphi bei nahezu bei eins liegt und der Energiefluss in Vorwärtsrichtung, also weg von der Sammelschiene geht. Der schwarze Zeiger der verketteten Sammelschienenspannung beträgt in etwa das √3-fache der Leiter Erde-Spannungen und der Winkel von 30° in Bezug auf die Leiter-Erde-Spannung von L1 ist ebenfalls stimmig.

10_SIGRA_Transview_Spannungen_Zeigerbilder

Jetzt setzen wir das blaue Messsignal auf einen Zeitpunkt in die ersten Millisekunden nach Fehlereintritt und sehen im rechten Diagramm die daraus resultierende Veränderung.

11_Transview_SIGRA_Spannungen_Erdschluss_Zeigerbilder

Das, was wir hier nun sehen, hat Lehrbuchcharakter. Die beiden vom Fehler nicht betroffenen Leiter-Erde-Spannungen L2 und L3 bewegen sich jeweils um 30° aufeinander zu. Die ursprüngliche Phasenverschiebung ändert sich dadurch von 120° auf jetzt 60°. Die Amplituden dieser beiden Zeiger erhöhen sich auf ca. 16 kV und damit um das √3-fache. Die Leiter-Erde-Spannung von Phase 1 bricht vollständig zusammen.

Eine weitere Erkenntnis können wir finden, wenn wir uns die verkettete Sammelschienenspannung zwischen L1 und L2 näher ansehen. Diese bleibt nämlich unverändert, auch nachdem der Erdschluss in L1 eingetreten ist. Die gilt für alle verketteten Spannungen. Bei einer geeigneten Schaltgruppe des Verteilnetztransformators, in der Regel Dy5 pflanzt sich der Fehler im Nullsystem nicht auf die 400 V-Ebene fort. Dort bleiben die verketteten sowie die Leiter-Erde-Spannungen unverändert und unsere Endverbraucher merken nichts vom Erdschluss.

Problematisch für das Mittelspannungsnetz können die erhöhten Spannungen in den gesunden Phasen und im gesamten galvanisch verbundenen Netz werden. Hat man hier eine Schwachstelle, so führt ein weiterer Erdfehler in vielen Fällen zum Doppelerdschluss.

Die wichtigste Spannungsgröße haben wir uns allerdings bisher noch gar nicht angesehen. Dabei handelt es sich um die Nullspannung. Da die Nullspannung vom Schutzrelais berechnet wird, liegen keine Messwerte im Störschrieb vor. Demzufolge müssen wir nun die Berechnung der Nullspannung von Transview durchführen lassen und die berechnete Größe in unser Spannungsdiagramm einfügen. Dazu gehen wir wie folgt vor: Wir öffnen die Matrix für die Signalzuordnung und setzen in der Zeile „Symmetrische Komponenten / U0* “ und in der Spalte „Zeigerbilder / Spannungen“ ein Häkchen.

12_SIGRA_Transview_Nullspannung

Nach der Bestätigung der Eingabe erscheint die berechnete Nullspannung in unserem rechten Spannungsdiagramm.

13_Transview_SIGRA_Zeigerbild_Erdschluss_stationär

Werden Größen in Transview berechnet, können diese immer daran erkannt werden, dass sie am Ende ein Sternchen haben. Wie wir sehen, tritt die Nullspannung erst nach Erdschlusseintritt auf und ist vor Fehlereintritt noch nicht sichtbar. Ihr Betrag entspricht ziemlich genau dem Betrag der Leiter-Erde-Spannung von L1, bevor der Erdschluss eingetreten ist, die Richtung ist erwartungsgemäß um 180° entgegengesetzt.

Ziehen wir kurze Zwischenbilanz. Anhand der Spannungen kann ein eindeutiger und nahezu lehrbuchartiger Erdschlusseintritt in Phase 1 beobachtet werden. Das Spannungsnullsystem tritt erst im Fehlerfall auf und zeigt die typische Amplitude und Phasenlage bei Erdschluss in Leiter 1.

Analyse der Ströme

Schauen wir uns die Ströme an. Wir lassen die beiden Messlineale gleich da stehen, wo sie sind, und betrachten wieder Vorfehler- und Fehlerfall.

14_SIGRA_Transview_Nullstrom_Zeigerbild

Hier lässt sich nun das gleiche Phänomen wie bei den Spannungen beobachten. Mit Eintritt des Erdschlusses entsteht ein Nullsystem, welches dem kapazitiven Erdstrom entspricht und in Form des dreifachen Nullstroms 3I0 gemessen wird. Zur Erinnerung, die Messung erfolgt über einen 200 / 1 A Kabelumbauwandler. Zur Erinnerung noch einmal die Formel:

3I0 = (I1 + I2 + I3) => komplex

Siemens Siprotec 5 verwendet die Definition IN = -3I0 und bei Siprotec 4 lautet die Definition "Iee" für den empfindlichen Messeingang.

Somit sind wir jetzt sogar in der Lage, die richtige Einbaulage des Wandlers zu verifizieren. Dazu ist es zielführend, dass wir den Nullstrom zusätzlich von Transview berechnen lassen und mit dem gemessenen Strom vergleichen. Gemäß unserer Erwartung sollte dieser ein entgegengesetztes Vorzeichen haben. Wir fügen also wieder über die Signalzuordnung das Nullsystem hinzu. Diesmal setzen wir das Häkchen in Zeile „Symmetrische Komponenten / I0* “ und in Spalte „Zeigerbilder / Ströme“.

15_SIGRA_Transview_Nullstrom_Berechnung

Nach Übernahme der Eingabe erhalten wir folgende Ansicht:

16_SIGRA_Transview_Nullstrom_Vergleich

Bei kleinen Lastströmen lässt sich das Ganze wieder, ohne groß zu rechnen und rein durch Betrachten des Vektordiagramms überprüfen.

Der Betrag des berechneten Nullstroms entspricht mit 17,3 A ziemlich genau einem Drittel des gemessenen dreifachen Nullstroms. Dies wäre nicht so, wenn wir in der Netzkonfiguration nicht exakt und folgerichtig den Faktor 1,33 und damit das Verhältnis der primären Bemessungsströme von Summen- und Leiterstromwandler angegeben hätten. Hier also immer gut darauf achten. Die Richtung des berechneten Wertes ist um 180° gedreht und damit sehen wir, dass der Anschluss der Strommessung in Ordnung ist.

Im Bereich zwischen – 30 ms und – 15 ms können wir im Strom den transienten Einschwingvorgang beobachten. Der Momentanwert der größten Stromspitze des gemessenen dreifachen Nullstroms beträgt primär 477 A. Die Leiter-Erde-Kapazität von L1 entlädt sich, während die Leiter-Erde-Kapazitäten von L2 und L3 auf ihr neues Niveau aufgeladen werden.

17_SIGRA_Transview_Erdschluss_transient

Dieser hier gezeigte transiente Verlauf, genauer gesagt vielmehr der erste Strom- und Spannungsimpuls dieses Verlaufes, werden zur Bestimmung der Fehlerrichtung in sogenannten Erdschlusswischerfunktionen ausgewertet. Das klassische cosphi Verfahren, welches in unserem Fall zur Anwendung kommt, wertet den stationären Zustand aus. Die Zeitverzögerung Parameter *.104 soll eine Messung im Einschwingvorgang verhindern und ermöglicht hier die Angabe eines unempfindlichen Zeitfensters.

Schön zu sehen: Der gemessenen dreifache Nullstrom IN ist keine reine Sinusgröße. Grund dafür ist die Tatsache, dass an der Fehlerstelle ein kleiner Lichtbogen am Brennen ist.

Analyse der Binärsignale

Bei der Analyse der Binärsignale sehen wir, dass zum Zeitpunkt von 0 ms eine allgemeine Anregung durch die Nullspannung erfolgte. Es wurde der Ansprechwert von 4,8 kV überschritten.

18_Transview_SIGRA_Trigger_Auswertung

In den ersten 445 ms erfolgte noch keine sichere Anregung der Richtungserkennung. Vielmehr schwanke der Algorithmus in kurzen Impulsen zwischen Vorwärtsrichtung und unbestimmter Richtung. Ab dem Zeitpunkt von 445 ms ist dann eine kontinuierliche Anregung in Vorwärtsrichtung zu beobachten, welche beim Zeitstempel von 2455 ms, also so ziemlich genau nach 2 s, wieder vakant wird. Was wir hier sehen, sind die zwei Sekunden, welche durch die Wirkstromverstärkung zu sicheren Anregeverhältnissen geführt haben. Vor und nach der Belastung durch den Widerstand, war die Wirkomponente im Reststrom zu klein, um vom Algorithmus erfasst zu werden.

Zudem können wir den Binärsignalen entnehmen, dass der Erdschluss in Leiter 1 erkannt wurde.

In einer letzten Betrachtung der Binärsignale erkennen wir schließlich, dass der Start der Schleife "Auslöseverzögerung abgelaufen" ca. 500 ms nach Eintritt der ersten sicheren Richtungserkennung erfolgt (Falls zuvor deaktiviert: Die Spur „Auslöseverzögerung abgelaufen“ wieder aktivieren).

19_SIGRA-Transview_Auslöseverzögerung

Dies entspricht dem Einstellwert von 0,5 s im Schutzrelais. Nach ca. 1 s fällt die Auslöseverzögerung wieder ab und gibt damit die Auslösung frei, welche in Form einer Meldung  an die Netzleitstelle übergeben wurde. Diese leitete dann Schalthandlungen und Wartungsmaßnahmen ein, der Erdschluss stand allerdings bis dahin noch weiterhin an. Eine automatisierte Abschaltung erfolgte nicht.

Erdschlussanalyse

Um nun eine finale Analyse der Erdschlusserfassung durchzuführen, erstellen wir uns ein gleichnamiges Zeigerbild, welches nur die beiden folgenden Größen enthält:

- 3I0 gemessen, (bei Siemens Siprotec 5 als „IN“ bezeichnet)

- U0* berechnet

Die berechnete Spannung U0* legen wir uns in die x-Achse und erhalten das folgende Bild:

20_Transview_SIGRA_wattmetrisch_Erdschluss

Leider ist es in Transview nicht möglich, einen bestimmten Zeiger auf eine beliebige Position zu setzten und wir müssen hier mit den 0° der positiven x-Achse vorliebnehmen. Unsere zuvor geschilderten Betrachtungen müsst ihr Euch nun einfach um 180° gedreht vorstellen. Die Analyse erfolgte also nicht im 2.-Quadranten, sondern im 4.-Quadranten.

Wir haben das Messlineal bewusst auf einen Moment gesetzt, in welchem der Richtungsentscheid versagt und wollen jetzt die resultierende Wirkkomponente im Reststrom berechnen. Dazu multiplizieren wir den cos von 85° mit einer Amplitude von 35,5 A und erhalten 3,1 A.

Darüber hinaus gibt es für Rockstars und die, die es noch werden wollen, eine einfachere Möglichkeit: Links oben gibt es die Möglichkeit den Strom IN, als Messsignal aufzuschalten. In der Tabelle rechts daneben berechnet Transview jetzt automatisch den Real- und Imaginärteil. Ablesen muss man allerdings weiterhin selbst.

21_SIGRA_Transview_Wirkanteil berechnen

Um jetzt eine gültige Richtungsanzeige zu erhalten, müssen zwei Kriterien erfüllt werden. Es muss Parameter *101 mit 3I0 > 10 A erfüllt werden und zudem muss Parameter *102 mit 3I0wirk > 6 A sein. In unserem dargestellten Fall, ist das erste Kriterium erfüllt, da unsere 35,1 A mit dem Faktor drei über dem Ansprechwert von 10 A liegen. Das zweite Kriterium hingegen ist nicht erfüllt. Der gemessenen Wirkanteil von 3,1 A reicht nicht aus, um das eingestellte Kriterium von 6 A zu triggern. Das permanente Flackern, welches wir beobachten können, resultiert aus den schwankenden Messwerten, welche wiederum im brennenden Lichtbogen ihre Ursache finden. Der Algorithmus ist hier nicht in der Lage, eine eindeutige Richtung zu erkennen und schwankt zwischen den beiden Zuständen „Vorwärts“ und „Unbestimmt“.

Jetzt setzen wir das Messlineal ein Stückchen weiter, in den Bereich mit erhöhtem Wirkreststrom und sicherer Richtungserkennung und legen uns U0* wieder in die x-Achse.

22_Transview_SIGRA_Erdschlussschutz

Auch hier berechnen wir die Wirkkomponente und multiplizieren cos 64° mit 48,8 A und erhalten 21,4 A. Hier wird der Ansprechwert zuverlässig mit einem Ansprechsicherheitsfaktor von mehr als 2 überschritten und dementsprechend erwartungsgemäß eindeutig in Vorwärtsrichtung erkannt.

Zusammenfassung:

Wie wir sehen können, hatte der fehlerhafte Schnitt des Kabels und der daraus resultierende Erdschluss einen gelungenen Sekundärnutzen. Wir haben uns das Prinzip der selektiven Erdschlusserfassung mit Wirkreststromerhöhung im gelöschten Netz vor Augen geführt und den daraus resultierenden Störschrieb und die typischen Erdschlussphänomene detailliert analysiert.

Autoren: Thomas Frey & Alexander Muth

HERZliche Grüsse,

Euer SCHUTZTECHNIK-TEAM

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