nsere Schutz- Steuer- und Regelungssysteme werden immer komplexer. Um genau zu sein haben wir es vielmehr mit System-Systemen zu tun. Bei näherer Betrachtung sind einfachste Schutzgeräte, jedes für sich genommen, eigene Systeme die über mehrere Bedienschnittstellen, Mess-, Schutz- Steuerungs- Regelungs- Monitorings- und Aufnahmefunktionen verfügen. Diese IEDs arbeiten dann im Verbund um z.B. kommunikationsbasierten Sammelschienenschutz oder andere Szenarien abzudecken, welche wiederum mit benachbarten Schutzsystemen (Verteilnetzschutz / Übertragungsnetzschutz / Kraftwerksschutz) zu einem größeren System zusammengefasst betrachtet werden müssen.
In diesem „wilden Mix“ aus schutz- steuer- und regelungstechnischen Systemen haben wir es inzwischen mit einer nahezu vollständig selbstüberwachenden digitalen IED-Generation zu tun. Moderne Geräte erreichen eine sehr hohe Verfügbarkeit, da sowohl Soft- als auch Hardware „selbstüberwacht“ sind und Geräte- bzw. Systemstörungen unverzüglich zur Anzeige gebracht werden. Die hohe Verfügbarkeit der kleinsten Einheiten, unserer IED’s, ist ein maßgeblicher Faktor bei der Erzielung optimaler Verfügbarkeit für alle übergeordneten Systeme und das gesamte Elektroenergiesystem. Im Zeitalter mehrfach optimierter digitaler Gerätegenerationen muss also die folgende Frage gestattet sein:
Sind Schutzprüfungen überhaupt noch zeitgemäß?
Um diese Frage zu beantworten, ist es zunächst erforderlich klare Vokabeln zu definieren. Nur wenn wir die selben Begriffe für ein und die selben Inhalte verwenden, sind wir in der Lage fruchtbar miteinander zu kommunizieren und die Thematik auf den Punkt zu bringen, also los geht’s:
Schutzprüfungen können generell in die 3 folgenden Prüfziele unterteilt werden:
1. Inbetriebsetzungsprüfung:
Die Inbetriebsetzungsprüfung dient dem vollständigen Nachweis aller funktionalen Details des Gesamtschutzsystems. Die Prüfung besteht aus vielen einzelnen Prüfschritten und wird im Rahmen einer Anlagenerrichtung oder Erneuerung durchgeführt.
2. Wiederholungsprüfung:
Diese Prüfung wird auch als „wiederkehrende Prüfung“ und „zyklische Prüfung“ oder auch als „Instandhaltungsprüfung“ bezeichnet. Sie steht für die, in regelmäßigen Abständen durchgeführten, Prüfschritte, welche im Rahmen der Instandhaltung als notwendig angesehen werden.
3. Sonderprüfung:
Die Sonderprüfung ist eine außerplanmäßige Prüfung welche in den nachstehend genannten Fällen zum Einsatz kommt:
- nach Störungen mit Einfluss auf die Funktion von IED’s,
- nachdem ein Schutzsystem Fehlfunktion aufgewiesen hat
- nach der Durchführung von Software-Updates oder Parameter- oder Konfigurationsänderungen
- nach Änderungen in der Anlage, welche das Schutzsystem beeinflussen (z.B.: Erneuerung der Wandlerverdrahtung)
Auch diese Prüfung besteht aus einer Zusammensetzung von einzelnen Prüfschritten. Unter Prüfschritt verstehen wir dabei einzelne Prüfungen, wie z.B. die Bürdenmessung im Rahmen der Wandlerprüfung.
Für die Inbetriebsetzungsprüfung lässt sich unsere Frage wie folgt beantworten:
Ja! Schutzprüfungen sind sehr wohl zeitgemäß. Alles muss geprüft werden! Auch moderne selbstüberwachende Systemkomponenten müssen initial auf Funktion getestet werden. An dieser Prüfung führt kein Weg vorbei, sie ist obligatorisch und niemand wird es wagen dies ernsthaft anzuzweifeln.
Über Sonderprüfungen sind wir uns wahrscheinlich ebenfalls einig. Eine z.B. durch Fehlfunktion auffällig gewordenes Schutzsystem muss natürlich immer „auf Herz und Nieren“ geprüft werden. Dabei gilt es jeweils mit Augenmaß zu unterscheiden, welche einzelnen Prüfschritte tatsächlich erforderlich sind. Auch diese Prüfung ist obligatorisch.
Diese beiden Schutzprüfungen, also die Inbetriebsetzungs- und die Sonderprüfung, machen den geringsten Teil aller Schutzprüfungen aus. Die Inbetriebsetzungsprüfung wird im Normalfall nur einmal am Anfang des Lebenszyklus eines Schutzsystems durchgeführt. Sonderprüfungen finden immer nur dann Anwendung, wenn es Hard- oder Softwareänderungen mit Einfluss auf das Schutzsystem gibt oder wenn Systemstörungen oder Fehlverhalten vorliegen. Die häufigste Prüfung aller Schutzprüfungen hingegen ist die Wiederholungsprüfung. Hier lohnt es sich genauer hinzusehen.
Die Wiederholungsprüfung besteht entweder aus einer Funktions- oder aus einer Hauptprüfung, welche traditionell abwechselnd durchgeführt werden. Auch hier existieren regional und je nach Systemebene unterschiedliche Vokabeln. Gemeint ist dabei immer das Gleiche:
Die Funktionsprüfung beschreibt die Überprüfung der Auslösefähigkeit des Schutzsystems, sowie die Überprüfung aller binären Ein- und Ausgangskreise und es werden alle analogen Eingänge durch Überprüfung der Betriebsmesswerte an den Displays der Geräte getestet (Ströme und Spannungen). Zudem erfolgt das Auslesen und Auswerten des Melde- und Störwertspeichers und der Vergleich aller Ist- mit den Sollparametern.
Die Hauptprüfung besteht aus einer Funktionsprüfung welche zusätzlich um eine Sekundärprüfung erweitert wird. Im Unterschied zur reinen Funktionsprüfung werden also auch die Ansprech- und Abfallwerte der Algorithmen angefahren und die Toleranzen der Ansprechwerte nachgewiesen.
Die Sekundärprüfung macht einen sehr wesentlich Teil einer Wiederholungsprüfung aus. So werden z.B. die Diff-Stab-Kennlinien von Differentialschutzfunktionen und deren Oberschwingungssperren komplett angefahren und überprüft. Distanzschutzfunktionen werden üblicherweise für alle im Betrieb denkbaren Fehlerarten und für alle aktiven Zonen mit dutzenden Auslöse- und Nichtauslösepunkten „bombardiert“. Thermische Kennlinien beim Maschinenschutz bringen aufgrund hoher Auslösezeitverzögerungen auch entsprechend hohe Wartezeiten bei der Sekundärprüfung mit sich (Richtig geprüft wird nämlich ohne die Zeitglieder zu Prüfzwecken „runter zu parametrieren“). Allein der Prüfaufbau für Sekundärschutzprüfungen ist zeitaufwendig, da ja die analogen Sekundärsignale simuliert und demzufolge auch temporär verdrahtet werden müssen. Auslöse- und Meldkreise müssen mit dem Prüfgerät verbunden werden, damit die Prüfeinrichtung Zeiten messen und die Prüfroutine absteuern kann.
Und nun meine bescheidene Frage: Wozu das Ganze?
Ist es denn tatsächlich erforderlich, im Rahmen einer Wiederholungsprüfung die Sekundärschutzprüfung als festen Bestandteil immer wieder durchzuführen?
Ich sage Nein. Hier ist dringendes Umdenken angebracht. In meinem Arbeitsleben habe ich unzählige Stunden damit verschwendet, Sekundärschutzprüfungen aufzubauen um dann Kennlinien und Ansprechwerte „abzuklappern“. Nur um am Ende immer das eine gleiche Ergebnis zu erhalten.
Ansprechwerte und Kennlinien moderner digitaler Schutzeinrichtungen verändern sich nicht!
Noch nie habe ich, beim Prüfen eines modernen digitalen Schutzgerätes, einen unzulässigen Ansprechwert oder eine außerhalb der Toleranzen liegende Kennlinie angetroffen. Wie sollte das auch gehen, wenn die Algorithmen dieser Funktionen auf numerischen Modellen basierend digital berechnet werden? War das immer so?
Nein! Und genau da liegt der eigentliche Grund für unsere heutige Vorgehensweise bei der Durchführung von Wiederholungsprüfungen. In der Geschichte der Schutztechnik und in unserer trägen Anpassungsfähigkeit beim Abschütteln von Gewohnheiten.
Die ersten Schutzgeräte waren elektromechanischer Natur. Diese Wunderwerke mechanischer Präzision mussten in regelmäßigen Abständen gewartet und nachjustiert werden. Vor allem thermische Kennlinien, welche unter Verwendung von Bitmetallgliedern realisiert wurden, mussten regelmäßig überholt werden. Zeitglieder und Auslösezonen elektromechanischer Distanzschutzgeräte erforderten ebenfalls entsprechende „Streicheleinheiten“. An Selbstüberwachung war hier nicht zu denken. Die gründliche Überprüfung von Ansprechwerten und Kennlinien war hier unabdingbar.
In der zweiten Generation der Schutztechnik, kamen erstmalig Operationsverstärker zum Einsatz. Dieser revolutionäre Schritt, hin zum analog-statischen-Schutz, hatte ebenfalls einen großen Schwachpunkt. Elektrolytkondensatoren verursachten altersbedingt die berühmte „Kennliniendrift“. Wir haben selber noch Kondensatoren umgelötet, um z.B. die Untererregungskennlinie eines 500-MW-Generators wieder herzustellen, nachdem dieser im untererregten Bereich „ausgestiegen“ war. Die peinlich genaue Überprüfung aller Kennlinien, aller Ansprech- und Rückfallwerte sowie der herstellerseitig garantierten Toleranzen waren wichtiger Bestandteil einer jeden Wiederholungsprüfung.
Und heute? Machen wir das immer noch so! Obwohl sich zwei Dinge fundamental geändert haben. Die systemintegrierte Selbstüberwachung unserer IED’s und die digitale Berechnung unserer Kennlinien und Ansprechwerte haben Einzug gehalten. Wir sollten diesem technischen Quantensprung Rechnung tragen. Zyklische Sekundärschutzprüfungen im Rahmen von Wiederholungsprüfungen gehören der Geschichte an. Ausgehend von fachlich korrekten Inbetriebsetzungsprüfungen, einer darauf folgenden Gewährleistungsprüfung (1. Jahr nach Erstinbetriebsetzung) und angemessenen zyklischen Funktionsprüfungen können wir auf die Sekundärprüfung im Rahmen der Wiederholungsprüfung bedenkenlos verzichten!
Die sogenannten Hauptprüfungen können damit abgeschafft und durch Funktionsprüfungen ersetzt werden.
Dabei müssen die bisherigen Prüfzyklen unbedingt beibehalten werden! Einige Betreiber argumentieren fälschlicherweise, dass die hohe Verfügbarkeit Ihrer Systeme zur Erhöhung der Prüfzyklen führen kann. Unsere Erfahrungen aus der Praxis zeigen das Gegenteil. Die zyklische Überprüfung der Systeme führt zur heutigen hohen Verfügbarkeit. Im Rahmen unserer Wiederholungsprüfungen haben wir immer wieder Schwachstellen aufgedeckt, welche zu elementaren Schutzversagern geführt hätten. Relais, Auslösespulen und hardverdrahtete Strecken sind trotz IEC 61850 und GOOSE nach wie vor integraler Bestandteil unserer Systeme und müssen in den üblichen Prüfzyklen wiederkehrend getestet werden. Zusammenfassend halten wir also fest:
Wiederholungsprüfungen sind die am häufigsten durchgeführten Schutzprüfungen schlechthin. Sie rufen die größten Instandhaltungskosten auf den Plan und machen zeitlich, in Abhängigkeit von Prüf- und Produktzyklen sowie von der Art des Schutzsystems, in etwa das 2- bis 5-fache aller Inbetriebsetzungs- und Sonderprüfungen aus. Dafür ist vor allem die darin integrierte Sekundärschutzprüfung verantwortlich. Der Umfang, die Dauer und damit auch die Kosten der Wiederholungsprüfung können wesentlich reduziert werden, wenn wir in Zukunft die Sekundärprüfung nur noch im Rahmen von Inbetriebsetzungs- und Sonderprüfungen durchführen. Der Nachweis von Kennlinien sowie von Ansprech- und Rückfallwerten, im Rahmen von Wiederholungsprüfungen, muss im Zeitalter der digitalen Schutzgerätetechnik als „water under the bridge“ oder auch gerne als „Schnee von Gestern“ bezeichnet werden. Kennlinien- und Parameterdrift der ersten und zweiten Schutzgerätegeneration gehören der Vergangenheit an.
Die üblichen Prüfzyklen der Betreiber sollten unbedingt beibehalten werden, da sich die schwächsten Glieder unserer Schutzsysteme generationsübergreifend bis in die heutige Zeit hinein noch nicht vollständig geändert haben.
HERZliche Grüsse Alexander Muth
PS: Die Abbildung dieses Beitrages entstammt meinem Buch „Die Bibel der Generator-Schutztechnik - Das Inbetriebsetzungsbuch der Profis“ in welchem Ihr die praktische Umsetzung aller relevanten Generator-Schutzprüfungen erfahrt. Darüber hinaus wird die allgemeine Prüfung von Strom- und Spannungswandlern sehr detailliert beschrieben und ist auch für den Netz- und Kraftwerkseigenbedarfschutz sehr nützlich. Mit diesem Kochrezept habt Ihr alles im Griff.