Jan 24, 2023
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Erdschluss

Wie funktioniert das Oberschwingungs-Verfahren?

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ERZlich Willkommen liebe Freunde der Schutz-, Leit- und Elektrotechnik zu unserem heutigen zweiten Teil der selektiven Erdschlussortung mittels Oberschwingungsverfahren. Im  ersten Teil hatten wir geklärt, wozu das Ganze eigentlich gut ist und uns zudem die Anschaltung der Schutzfunktion angesehen. Heute werden wir uns das theoretische Funktionsprinzip vor Augen führen und die daraus resultierenden praktischen Erkenntnisse herleiten. Viel Spaß beim Sehen (oder lesen),

Euer SCHUTZTECHNIK-TEAM

(Lesebeitrag unter dem Video)

Wie funktioniert das Oberschwingungs-Verfahren?

Fassen wir kurz die Erkenntnisse aus unserem vorangegangenen Beitrag zusammen. Wir hatten gesagt, dass mit dem transienten Wischerverfahren eines der besten Tools zur selektiven Erdschlussortung in vermaschten Netzen zur Verfügung steht. Dabei gibt es die wesentliche Einschränkung, dass keine Suchschaltungen bei anstehenden Erdschlüssen möglich sind, da immer nur der Eintrittsmoment des Fehlers bewertet werden kann. Ist das Netz recht einfach aufgebaut und idealerweise radial angeordnet, kann das Wischerverfahren mit dem klassisch wattmetrischen Verfahren ergänzt werden. Allerdings kommt das wattmetrische Erdschlussortungsverfahren in komplexeren und vermaschten Netztopologien schnell an seine Grenzen; wir hatten hier Effekte wie Winkelfehler der Wandler und das Phasensplitting als mögliche Fehlerursachen genannt. Hinzu kommt, dass für die Strommessung beim wattmetrischen Verfahren zwingend Kabelumbauwandler verwendet werden sollten und das Verfahren damit eigentlich nicht für luftisolierte Energiesysteme ab 110 kV aufwärts geeignet ist. Dennoch gibt es in der Praxis auch jede Menge wattmetrischen Schutz mit Ausführung in Holmgreenschaltung. Hier ist die erforderliche Messgenauigkeit allerdings häufig nicht gegeben und fehlerbehaftete Richtungsanzeigen können die Folge sein. Es sei denn, es kommt eine hinreichend groß dimensionierte Wattreststromerhöhung zum Einsatz, welche den Einfluss Holmgreenscher Winkelfehler deutlich reduzieren kann.

Das wesentlich bessere Verfahren ist das heute vorgestellte Oberschwingungsverfahren. Wir erinnern uns nochmal an die Anschaltung: Jeder Abgang verfügt über ein Erdschlussrelais, welches den jeweils eigenen Abgang permanent auf Erdschlussanregung und Erdschlussrichtung überwacht. Die dafür erforderlichen Sekundärmessgrößen erfassen wir klassisch via Strom- und Spannungswandler. Dabei wird an jedem Abgangsrelais die gemeinsame sekundäre Nullsystemspannung benötigt, welche üblicherweise über die im offenen Dreieck verschalteten Dreieckswicklungen der drei Spannungswandler gewonnen wird. Dazu wird eine Ringleitung an der da-dn-Schaltung der Spannungswandler errichtet und mit den Schutzrelais in den Abgängen verbunden. Des weiteren benötigen wir den Nullsystemstrom, welchen wir über geeignete Kabelumbauwandler in jedem der Abgänge erfassen.

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Abbildung 1: Sekundärer Grundanschluss der Strom- und Spannungswandler

An dieser Stelle hatten wir festgestellt, dass sowohl das Oberschwingungsverfahren, als auch das wattmetrische Erdschlussortungsverfahren den gleichen Messaufbau verwenden, mit dem Zusatzhinweis, dass für das Oberschwingungsverfahren auch die Holmgreenschaltung zulässig ist.

Um uns nun die Funktionsweise des Oberschwingungsverfahrens verständlich zu machen, ist es zunächst erforderlich, die Stromverhältnisse in gelöschten Netzen und die Arbeitsweise des wattmetrischen cos-phi-Verfahrens genauer zu betrachten. In einem Netz mit Erdschlusskompensation ist mindestens ein Sternpunkt eines Transformators oder Sternpunktbildners über eine Erdschlusslöschspule geerdet. Die Induktivität vorhandener Löschspulen wird auf die Erdkapazität des Netzes abgestimmt, um im Erdschlussfall den kapazitiven Erdschlussstrom fast vollständig zu kompensieren. Damit wird eine energetische Entlastung an der Fehlerstelle erzielt und es können wesentlich größere Netze unterhalb der Löschgrenze betrieben werden.

Die in Deutschland übliche Überkompensation bedeutet: Der induktive Strom der Petersenspule ist geringfügig größer als der kapazitive Erdschlussstrom des Netzes. Diese Abweichung wird als Verstimmungsgrad V bezeichnet und liegt meist in der Größenordnung von etwa 5 %.

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Abbildung 2: Verstimmungsgrad V bei Überkompensation

Die Überkompensation bietet einen praktischen Vorteil: Wenn Kabel- oder Leitungsstrecken weggeschaltet werden, wird der Resonanzbetrieb verhindert, da der Verstimmungsgrad nicht in Richtung der Vollkompensation absinken kann, sondern weiter ansteigt. Der Hintergrund ist hier einfach der, dass wir immer versuchen, die Vollkompensation zu vermeiden, um nicht in Resonanz zu geraten.

Beim cos-phi-Verfahren werden nun Betrag und Richtung des Wirkstromanteils im Erdschlussreststrom ausgewertet. Der große Vorteil: Der Wirkstrom ist weitestgehend unabhängig vom Verstimmungsgrad der Löschspule. Er beträgt in Kabelnetzen etwa 3 % und in Freileitungsnetzen ca. 6 bis 10 % des kapazitiven Erdschlussstroms.

Schauen wir uns also zunächst die generelle Zusammensetzung des Erdschlussreststroms an. Der aus der Kompensation resultierende  Erdschlussreststrom besteht aus einem nicht kompensierbaren Wirkstromanteil, unkompensierten Anteilen des Blindstromes in Abhängigkeit vom Arbeitspunkt der Löschspule, sowie aus Oberschwingungsanteilen, welche hier aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht dargestellt sind.

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Abbildung 3: Zusammensetzung des Erdschlussreststroms & Lage zur Nullspannung

Wird ein Netz überkompensiert betrieben, liegt der Winkel des Erdschlussreststromes in der Regel im Bereich von -10° bis -80°, also im 4. Quadranten, wenn wir vorher festlegen, dass die Nullspannung bei 180° liegt und das wir uns im vom Erdschluss betroffenen Abgang befinden. Bei Unterkompensation ist der Erdschlussreststrom im ersten Quadranten zu finden.

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Abbildung 4: Lage des Reststroms bei Unter- & Überkompensation

Wie bereits erwähnt, verlangt das wattmetrische Verfahren eine sehr hohe Winkelgenauigkeit, da der Wirkstrom bei größeren Verstimmungsgraden nur kleine Zeigerdrehungen hervorruft. Insbesondere Winkelfehler mit positiver Drehrichtung können „gesunde“ Abgänge als fehlerhaft erscheinen lassen, da eine Verschiebung in Richtung Auslösebereich erfolgt. Der Einsatz genauer Kabelumbauwandler ist hier in jedem Fall anzuraten.

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Abbildung 5: Winkelfehler im Grenzbereich

Warum kann nun das Oberschwingungsverfahren auch preiswert und praktisch via Holmgreenschaltung betrieben werden, auch wenn keine Wattreststromerhöhung vorhanden ist, und überhaupt, wie funktioniert das Oberschwingungsverfahren? Um diese Fragen beantworten zu können, schauen wir uns die folgende Abbildung und damit den Grundaufbau des Oberschwingungsverfahrens an.

Die Erdschlussrelais in der Abbildung sind in der Lage, auf Basis der Fourier-Transformation die Ströme und Spannungen gezielt auf eine festlegbare Frequenz hin zu filtern. In unserem Beispiel sollen das die 250-Hz-Komponenten von Strom und Spannung sein.

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Abbildung 6: Sekundäraufbau Schutzsystem für Oberschwingungsverfahren

Die 250-Hz-Komponenten werden nun anstelle der fundamentalen Grundschwingungsströme und Spannungen verwendet, um die Charakteristik der Kennlinie zu überwachen. Der kapazitive Erdschlussstrom berechnet sich aus dem Produkt von Nennspannung, Wurzel aus 3, Omega und der Leiter-Erde-Kapazität des Gesamtnetzes.

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Bei der Betrachtung der Faktoren dieser Gleichung fällt auf: Es handelt sich hauptsächlich um konstante Größen. Die Spannung können wir weitestgehend konstant ansetzen und auch bei Wurzel 3 gibt es nicht viel Verhandlungsspielraum. Gehen wir weiterhin davon aus, dass keine Schalthandlungen stattfinden, so kann auch die Leiter-Erde-Kapazität des Netzes als annähernd konstant angenommen werden. Es bleibt also nur noch das kleine Omega und hier findet die ganze Magie statt. Omega ist die Kreisfrequenz und berechnet sich aus dem Produkt von 2 Pi f. Damit ist der kapazitive Nullstrom frequenzabhängig. Das liegt daran, dass die Nullreaktanz der Leiter-Erde-Kapazitäten im 250-Hz-Bereich auf ein Fünftel absinkt und damit für größere Frequenzbereiche leitfähiger wird. Wie wir wissen, ergibt sich diese ja zu:

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Wenn die Frequenz um den Faktor 5 steigt, sinkt die Reaktanz analog auf ein Fünftel und der Strom geht entsprechend in die Höhe. Natürlich muss die Größe des 250-Hz-Stromes auf seine tatsächlich vorhandenen Anteile bezogen werden. Die Größe des Oberschwingungsanteils im Summennullstrom kann daher wie folgt berechnet werden:

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Wir multiplizieren den kapazitiven Erdschlussstrom mit der verwendeten Oberschwingungsfrequenz und dem prozentual vorhandenen Oberschwingungsanteil der Leiter-Leiter-Spannung und teilen das Ergebnis durch den Faktor 5000.

Das Geniale ist nun, dass wir immer ein maximal verstimmtes System haben und sich die Blindanteile nicht mehr kompensieren können. Denn was wir bisher noch gar nicht angesprochen haben, ist die Tatsache, dass sich die Reaktanz der Petersenspule in der Welt der 250-Hz-Ebene ebenfalls um den Faktor 5 verändert, genauer gesagt um den Faktor 5 vergrößert.

Streng genommen haben wir es auf der 250-Hz-Ebene gar nicht mehr mit einem kompensierten, sondern mit einem isolierten Netz zu tun.

Machen wir ein Zahlenbeispiel, um den Vorteil des Oberschwingungsverfahrens zu verdeutlichen, und gehen von einem gelöschten Mittelspannungsnetz mit 100 A kapazitiven Erdschlussstrom, einer Dämpfung von 3 % und einem 250-Hz-Anteil von 4 % aus.

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Abbildung 7: Kompensiertes Mittelspannungsnetz als Zahlenbeispiel

Der 50-Hz-Anteil des Wattreststroms, welcher für das cos-phi-Verfahren verwendet wird, beträgt in etwa 3 A. Bei einem Kabelumbauwandler mit einem 60 / 1 A Übersetzungsverhältnis haben wir nur noch einen sekundären Wattreststrom von 5 mA, welcher zu klein ist, um sicher bewertet zu werden. Die kapazitive Komponente können wir im gelöschten Netz nicht nutzen, da diese unverbindlich und vom Arbeitspunkt der Spule abhängig ist.

Der kapazitive 250-Hz-Anteil hingegen beträgt satte 20 A. Der Spulenstrom von etwa 105 A erscheint in der 250-Hz-Welt nur noch mit ca. 840 mA und fällt damit nicht mehr ins Gewicht. Es verbleibt ein resultierender kapazitiver 250-Hz-Strom von 19,16 A. Damit stehen nach Übersetzung auf die Sekundärseite stattliche 320 mA zur Verfügung. Das ist natürlich ein erheblicher Unterschied und bietet geeignete Anregebedingungen für den Erdschlussrichtungsschutz.

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Abbildung 8: Berechnung der Stromkomponenten für 50- und 250 Hz

Zur Auswertung der Messsignale kommt die Charakteristik der sin-phi-Methode zum Einsatz, da nicht der Wirk- sondern der Blindanteil im Nullsystem überwacht wird.

Fassen wir also die Funktionsweise des Oberschwingungsverfahrens in einem Satz zusammen: Das Oberschwingungsverfahren ist ein Blindleistungsrichtungsschutz im Nullsystem, welcher sich ausschließlich auf eine gefilterte Oberschwingungsfrequenz der gemessenen Strom- und Spannungssignale bezieht.

Was gibt es noch Wichtiges zu sagen? Die Empfindlichkeit des Oberschwingungsverfahrens ist recht gut; es ermöglicht, Erdschlüsse mit Fehlerwiderständen von bis zu 4 kΩ zu erfassen. Das cos-phi-Verfahren hingegen kommt nur bis maximal 2 kΩ zu sicheren Ergebnissen. Dann hatten wir gesagt, dass die Anforderungen bezüglich der Winkelfehler geringer sind und aufgrund der hinreichend großen Ströme auch die Holmgreenschaltung verwendet wird.

Voraussetzung für die Anwendung des Oberschwingungsverfahrens ist allerdings, dass dauerhaft genügend hohe Oberschwingungen im System vorhanden sind. Hier empfiehlt es sich, über einen Zeitraum von etwa 2 bis 3 Wochen Langzeitmessungen durchzuführen und zu schauen, welche ungeradzahligen Harmonischen verbindlich vorhanden sind. Das geht zum Beispiel sehr komfortabel und zuverlässig mit einer PQ-Box der Firma A. Eberle aus Nürnberg.

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Abbildung 9: PQ-Box 200 der Firma A. Eberle GmbH & Co. KG

Generell gilt: Keine Angst, ungeradzahlige Oberschwingungen sind eigentlich permanent zugegen, auch wenn nur wenige oder sogar gar keine nicht-lineare Lasten in der Kundenanlage anzutreffen sind.

In der Praxis versucht man bezüglich der eingesetzten Harmonischen häufig einen Kompromiss aus hinreichend hohem Strom und minimaler Frequenz zu finden, da sich zu hohe Frequenzen beim Zuschalten von zusätzlichen induktiven Netzanteilen negativ auswirken können. Hier gilt: Je größer die gewählte Harmonische Oberschwingung ist, um so weniger Netz kann zugeschaltet werden. In der Praxis kommen dann, je nach vorliegender Netztopologie, Frequenzen im Bereich von 150 bis 350 Hz zum Einsatz. Das Erdschlussortungsrelais EOR-3D der Firma A. Eberle verfügt über einen frei wählbaren Frequenzbereich von 0 bis 500 Hz und wird mit einer Voreinstellung von 217 Hz ausgeliefert.

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Abbildung 10: Erdschluss-Ortungsrelais EOR 3D der Firma A. Eberle GmbH & Co. KG

Wie wir sehen, ist das Oberschwingungsverfahren eine technisch sehr zuverlässige Ergänzung für das transiente Wischerverfahren und sollte bei einem guten Erdschluss-Engineering immer mit in Betracht gezogen werden.

Sollten Euch diese Themen näher interessieren, dann empfehlen wir die Online- und Vor-Ort-Trainings unserer Engineering Academy. Insbesondere im Rahmen unseres Mittelspannungsschutz-Intensivseminars gehen wir detailliert auf die Zusammenhänge ein.

HERZliche Grüsse

Euer SCHUTZTECHNIK-TEAM

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